Ohne Dunkelheit kein Licht – Traurigkeit annehmen

Die Trauer ist unter unseren Gefühlen sicher das Stiefkind, dem wir nur ungerne die Türe öffnen. Sie wird in der Öffentlichkeit kaum gelebt und findet wenn, nur ganz im Privaten statt. Und auch da noch wird sie gerne schnell weggewischt und getröstet, damit sie bloss bald vergeht.

In der chinesischen Medizin und Philosophie hingegen hat die Trauer, der Kummer, einen festen Platz neben all den anderen Gefühlen: Freude, Wut/Zorn, Angst/Furcht und Mitgefühl/Sorge. Sie darf gleichwertig sein, und noch mehr. Denn ohne Traurigkeit entsteht keine Frucht, kein Zorn, keine Freude, kein Mitgefühl.

Auch in der westlichen Psychologie wird heute der Grundsatz vertreten, dass ein gesunder Mensch die Fähigkeit besitzen muss, das gesamte Spektrum an Emotionen auszudrücken. Dh. gesund ist, wer auch mal traurig sein kann.

Traurigkeit aushalten erlaubt Loslassen. Auf Loslassen folgt eine neue Offenheit.

Kommt Traurigkeit in uns auf, ziehen wir uns in der Regel zurück. Der Rest der Welt kann uns mal. Wir richten uns nach Innen, blenden das Aussen mehr aus. Dies gibt uns Zeit und Raum, einerseits ganz nahe bei uns zu sein und uns gleichzeitig nur mit uns selbst zu beschäftigen. Aus therapeutischer Sicht ungemein wertvolle Momente.

Die Traurigkeit bringt somit die Chance uns ganz mit unserer Essenz, mit unserer eigenen, ungeschminkten Wahrheit zur verbinden. Oft fühlen wir uns so traurig ganz dünnhäutig. Wenn unsere Haut dünner ist, kann auch mehr durchkommen. Diese traurigen Momente bieten Gelegenheit Neues zu erfahren, was davor vielleicht gar nicht bis zu uns durchkam.

Die Traurigkeit zu halten und auszuhalten, erlaubt weiter sie zu erforschen und ggf. herauszufinden, was dahintersteckt. Wenn ich sie aushalte, kann ich beobachten, was sie mit mir macht. Es erlaubt mir auf den Grund der Trauer abzutauchen und zu erkennen worum es geht. Ist es eine Trauer die ich schon kenne? Oder präsentiert sie sich heute ganz neu? Was war der eigentliche Auslöser?

Um all das herauszufinden, muss ich sie zulassen, die Traurigkeit.

Finde ich heraus worum es geht, habe ich etwas Konkretes dem ich mich annehmen kann. Bei einer bereits bekannten Trauer, kommt vielleicht ein Anteil meines inneren Kindes an die Oberfläche, das Zuwendung braucht. Oder ich entdecke vielleicht einen Weltschmerz, der mir bisher unbekannt war.

Wie auch immer. Verstehe ich woher meine Traurigkeit kommt und womit sie zusammenhängt, habe ich konkrete Punkte bei denen ich ansetzen kann. Einem traurigen (inneren) Kind kann man Sicherheit vermitteln in dem man es in den Arm nimmt. Dem Weltschmerz kann man, untermalt von entsprechender Musik und vielleicht begleitet von einem guten Glas Wein, seinen grossen Auftritt geben.

Auf körperlicher Ebene wird Traurigkeit meist begleitet von Tränen und Schluchzen. Tränen weichen uns auf, Schluchzen macht Platz und verschafft Luft. Die Emotion kommt ins Fliessen, bewegt sich und uns. Ein erstes Loslassen macht sich so bereits auf körperlicher Ebene bemerkbar.

Erhält die Traurigkeit ihren Moment des Ausdruckes, darf sie auch wieder vergehen. Das (innere) Kind findet Trost in der Umarmung. Der Weltschmerz findet Erleichterung in seiner Anerkennung. Und wir dürfen wieder Loslassen, das getröstete (innere) Kind, den erleichterten Weltschmerz und die dazugehörige Traurigkeit.

Grundsätzlich gilt für alle Emotionen, dass sie sich wellenartig bewegen. Sie vergehen alle wieder. Wenn wir uns jedoch gegen die Welle stemmen, wird sich diese aufstauen, was uns viel Energie abverlangt. Und ggf. zu einem Zusammenbruch führen kann, wenn wir lange genug durchhalten.

Hingegen lasse ich die Welle kommen, kann ich sie im Idealfall gar reiten, werde ich zwar auf den Höhepunkt der Emotion mitgetragen, aber danach geht es unweigerlich wieder runter. Die Emotion klingt wieder ab und zieht vorbei.

Dies verlangt jedoch von mir, dass ich die Kraft der Emotion voll aushalten kann.

Und das will geübt sein. Also, wenn Dich das nächste Mal eine Traurigkeit erschleicht, lass ihr die Türe doch zumindest einen Spalt breit offen. Lass zu, dass sie Dich mitnimmt, Dir eine Pause von der Welt verschafft und einen Moment ganz nahe bei Dir beschert.

Eine gelebte Trauer verschafft Erleichterung und Platz. Dahinter kommt eine frische Offenheit. Oft fühlen wir uns ganz zerbrechlich nach so einer durchweinten Zeit. Traurigkeit weicht uns auf, macht uns empfänglicher und achtsam aufmerksamer. Die Sinne sind erfrischt, die Wahrnehmung neu. Wir können die Welt neu betrachten und sehen Dinge, die davor vielleicht nicht zu erkennen waren.

Und so ganz nebenbei haben wir uns einmal mehr besser kennengelernt und können mit frischen Einsichten bereichert zurück ins Leben starten.

So betrachtet, sollten wir uns alle öfters mal Zeit nehmen zu trauern 😉